Fremdverliebt – Was tun bei diesem Gefühlschaos?

Fremdverliebt – Was tun bei diesem Gefühlchaos?

In unserer Praxis für Paartherapie erleben wir immer wieder, dass Paare oder Einzelpersonen mit der Frage vor uns sitzen: „Ich habe mich fremdverliebt! Was jetzt?“ Egal wie häufig uns dieses Phänomen begegnet, die meisten Klienten fühlen sich dabei erstmal ähnlich: Sie sind verwirrt und fühlen sich schuldig für die eigenen Gefühle, manche schämen sich auch und sind absolut hilflos, wie sie mit der Situation umgehen sollen.

Die Verliebtheit zu einer neuen Person trotz Beziehung oder Ehe kann extrem belastend sein und führt oft zu einem Gefühlschaos. Aus der paartherapeutischen Erfahrung wissen wir aber, dass es handfeste Methoden gibt, diese Verwirrung durch Klarheit zu ersetzen und nach dem Verstehen konkrete Ideen zu entwickeln, wie es weitergehen kann. 

Ich brauche Klarheit: Welche Gründe können dahinterstecken?

Es ist wichtig zu verstehen, dass man sich nicht einfach spontan fremdverliebt und plötzlich Schmetterlinge im Bauch hat. Verlieben ist selten ausschließlich auf sexuelle Anziehung zurückzuführen, obwohl das oft verwechselt wird. Meistens weist Fremdverliebtheit oder auch Fremdgehen auf einen Wunsch nach Bindung hin, der in der aktuellen Beziehung nicht (mehr) erfüllt wird.

Um herauszufinden, ob es sich um sexuelle Anziehung oder um ein tieferes Bindungsbedürfnis handelt, können Sie sich folgende Fragen stellen: Fühle ich mich ausschließlich zu der anderen Person hingezogen, wenn ich mich sexuell begehrt fühle oder selbst begehre? Oder fühle ich mich dem anderen vor allem dann nah, wenn ich mich verstanden und gesehen fühle, mich genauso zeigen kann, wie ich bin, und dadurch eine ehrliche, freie, verbundene Zeit mit dem anderen habe?

Falls Sie dabei feststellen, dass es sich doch um reine sexuelle Anziehung handelt, ist die Frage, ob Sie daran glauben, dass sich diese auch in Ihrer eigentlichen Beziehung entwickeln kann bzw. wiederzufinden ist? Falls nein, ist es für viele ziemlich eindeutig, dass eine Trennung indiziert ist. Falls ja, ist es ratsam, mit dem Partner oder der Partnerin zu sprechen, wie das Erregende zurück in die eigene Beziehung kommen könnte. Für manche Paare sind auch alternative Beziehungsformen denkbar. Sollte es aber, wie in den meisten Fällen, beim Fremdverlieben um die Suche nach Bindung außerhalb der eigenen Beziehung gehen, ist es etwas komplizierter.

Um Klarheit zu bekommen, wie Bindung verloren gegangen ist, können wir verschiedene Szenarien betrachten:

1. Harmonie und Konfliktfreiheit statt emotionaler Nähe 

Harmonie und Konfliktfreiheit kann die Illusion einer perfekten und glücklichen Beziehung erzeugen. Von außen betrachtet ist kein Problem zu erkennen und sie sind sie seit Jahren mit ihrem Partner zusammen. Bildlich gesprochen werden die Probleme unter einen Teppich gekehrt, aber irgendwann kann man an diesem Teppich stolpern. 

Emotionale Nähe bedeutet, sich dem anderen mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen zeigen zu können und sich verstanden und gehört zu fühlen. Dazu gehört auch, den anderen durch die eigenen Bedürfnisse unter Umständen in dessen eigenen frustrieren zu müssen. 

Es kann manchmal schwierig sein, diesen Konflikt gemeinsam aushalten und überwinden zu können. Wenn wir es aber vermeiden, uns dem anderen wirklich zu zeigen, haben wir zwar keinen offenen Konflikt und vordergründig Harmonie, aber wir sind nicht ehrlich mit uns und auch nicht mit unserem Partner. Mit der Zeit entsteht immer mehr Distanz und unser Bindungsgefühl geht Stück für Stück verloren. 

Wenn wir also nicht ehrlich mit uns und dem Partner bezüglich unserer Gefühlswelt und Bedürfnisse sind, um einen möglichen Konflikt zu vermeiden, werden unsere eigentlichen Grundbedürfnisse nach zum Beispiel Bindung oder Sicherheit nie wirklich erfüllt sein können. 

Man könnte sagen, je mehr und stärker wir vermeiden, damit es nicht zu unangenehmen Gefühlen oder Streit kommt, desto höher ist irgendwann die Chance, dass wir “plötzlich” fremdverliebt sind. 

2. Den Partner auf Distanz bringen 

Bindung geht auch verloren, wenn es entweder für mich oder meinen Partner wichtig ist, den anderen immer wieder auf Distanz zu bringen, wenn es emotional unangenehm oder schwierig wird. 

Wir bringen Distanz zwischen uns und den anderen, indem wir beispielsweise aus emotional unangenehmen Situationen flüchten oder lauter werden, uns vehement verteidigen, Vorwürfe machen, kurz gesagt, wenn wir immer Flucht- oder Kampfverhalten zeigen. 

Mit dieser Reaktion machen wir uns vielleicht erstmal etwas weniger angreifbar, fühlen uns durch den Rückzug wieder mehr in Sicherheit oder haben in der etwas dominanten aktivieren Rolle ein gutes Gefühl von Kontrolle. 

Es ist aber nicht gerade eine Einladung für den anderen, wohlwollend auf uns zuzugehen. Ohne es wirklich langfristig zu wollen, sabotieren wir also auch damit unser Bindungsgefühl. 

Manche Menschen haben so große Angst vor echter Bindung, dass sie es aus Selbstschutz vermeiden, dass ihnen jemand wirklich nah kommt. Aufgrund schlechter Erfahrungen wollen sie niemanden mehr so nah an sich heranlassen, dass sie erneut verletzt werden könnten. 

Oder sie haben das Gefühl, dass sie immer nur entweder ihr Bindungsbedürfnis oder ihr Autonomiebedürfnis befriedigen können. Stellen Sie sich Bindung und Autonomie wie eine Waage vor: haben wir etwas mehr von einem, verlieren wir automatisch etwas mehr vom anderen. 

Wichtig ist eine übergeordnete Balance, es ist kein Entweder-oder-Konzept. Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrung letzteres verinnerlicht haben, werden ihren Partner auf Distanz bringen, sollten Sie eines der beiden Grundbedürfnisse bedroht sehen und ein vorübergehendes, ganz normales “Ungleichgewicht” nicht gut aushalten können. 

3. Unzureichendes Bindungskonzept

Wenn jemand nie gelernt hat, was Bindung wirklich bedeutet, kann es schwierig sein, eine tiefere emotionale Verbindung zu erleben. Wenn man nur ein oberflächliches Konzept von Bindung hat, wie zum Beispiel „Haus, Garage, Hund, Kind, Vereinsaktivität, gemeinsame Ausflüge am Wochenende“, dann kommt man gar nicht auf die tiefere Ebene, sich wirklich emotional verbunden zu fühlen. 

Hier fallen die Partner meist aus allen Wolken, wenn sich der andere fremdverliebt oder fremdgeht. Selten, aber auch möglich: sie sind selbst diejenigen, die sich fremdverlieben, weil sie diese Art echter Bindung durch jemand anderen finden und ihr bisheriges Konzept von Beziehung nicht mehr haltbar ist. 

4. Stress und Alltag

Selten sitzen Paare oder Einzelpersonen mit der Frage nach der Fremdverliebtheit vor uns, bei denen Nähe ausschließlich deshalb verloren gegangen ist, weil sie schlichtweg zu viel Stress im Leben haben. In den meisten Fällen taucht dieses Phänomen zusätzlich zu den oben genannten Dynamiken auf. 

Paare, die beispielsweise durch zwei Vollzeitjobs plus Kinder im Alltag so viel Stress haben, dass es ihnen lange Zeit gar nicht möglich war, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und diese dem Partner mitzuteilen, erleben oft einen Verlust der Nähe. Beide haben sich auf ein WG-Leben und das Funktionieren im Alltag verlassen, vielleicht auch gebraucht, dass es nicht auch noch in der Partnerschaft Schwierigkeiten und potenziellen Stress gibt. 

Der Preis dafür ist aber auch hier, dass die Paare erst sehr, sehr spät mitkriegen, wie Stück für Stück immer mehr Nähe verloren gegangen ist oder sich sogar einer von beiden fremdverliebt hat, um an anderer Stelle Bindung zu bekommen. 

Was mache ich jetzt mit dieser Klarheit?

Nachdem Sie Klarheit gewonnen haben, was genau los ist, ist der nächste Schritt das Gespräch mit dem Partner. Häufig kommt dann der Vorwurf vom Partner, warum man nicht gleich zu ihm gekommen ist. Das würde aber in einem völlig unsortierten Zustand höchstwahrscheinlich nach hinten losgehen und wäre nicht zielführend. 

Im Gespräch geht es nicht immer darum, die Fremdverliebtheit selbst zu offenbaren, sondern vor allem darum, die Klärung zu offenbaren: Was genau hat, für mich an der Beziehung nicht gut funktioniert und hat zu mehr Distanz als mehr Bindung beigetragen? Wo sehe ich meinen eigenen Anteil daran, wo den des anderen? Und wie können wir einen besseren Umgang miteinander entwickeln und bewahren? 

Transparent darüber zu sprechen und gemeinsam daran zu arbeiten geht natürlich nur, wenn man sich das selbst und auch dem Partner zutraut.

Paartherapeuten können an dieser Stelle helfen, um das richtige Vokabular zu finden, die Paardynamik und den individuellen Bindungsverlust des Paares zu verdeutlichen, die dazu geführt haben, dass sich einer fremdverliebt hat. Diese Krise muss nicht unbedingt eine Trennung bedeuten, aus Erfahrung wissen wir, dass es für viele Paare auch eine riesige Chance sein kann. 

Wenn man natürlich im gemeinsamen Prozess merkt, dass nur einer von beiden an Verstehen und Verändern interessiert ist oder dass es sehr lange, hartnäckige Arbeit bedeuten würde, die festgefahrenen Muster zu durchbrechen, und einem die Geduld und der Glaube an die Beziehung fehlt, dann darf man auch gehen. 

Eine Trennung ist völlig nachvollziehbar und in Ordnung, wenn einem klar wird, dass man mit dem anderen vermutlich niemals emotionale Nähe und damit die Bindung haben wird, die man sich wünscht.